Ausstellungseröffnung in EBB Alt Rehse

Dr. Erwin Walraph, Dr. habil. Monika Tomkiewicz, Rainer Stommer.
Dr. Erwin Walraph, Dr. habil. Monika Tomkiewicz, Rainer Stommer. Foto: Dorota Makrutzki

Sonderausstellung: In Between? – image and memory

Welche Geschichte verbirgt sich hinter der Stille der Wälder bei Piasnitz/Piaśnica? Wie wird der Ort durch Kameralinsen im Rahmen eines Kunstprojektes gesehen? Wie nimmt diese Waldlandschaft eine Historikerin wahr, deren Aufgabe darin besteht, die Ereignisse an diesem Ort aufzudecken?

Denn der Piasnitzer Wald wurde zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zum Tatort. Wenige Kilometer von der Stadt Wejherowo (Neustadt) entfernt, haben Sondereinheiten der SS unter der Leitung des SS-Obersturmbannführers Kurt Eimann und politischer Führung des Gauleiters für Danzig-Westpreußen Albert Forster nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 6.000 und 12.000 Menschen erschossen. Es handelte sich hierbei um die erste systematisch durchgeführte Mordaktion der Nationalsozialisten im deutsch besetzten Europa. Zu den Opfern zählten Vertreter und Vertreterinnen der polnischen sozialen und politischen Eliten, der sich zu Polen bekennenden kaschubischen Bevölkerung und politische Gefangene aus dem Deutschen Reichsgebiet, darunter auch 1.200 deutsche und polnische Patienten und Patientinnen psychiatrischer Einrichtungen, unter anderem aus Pommern. Das ausgedehnte Waldgebiet ist nach einem Fluss und Ortschaften benannt, der auf Polnisch Piaśnica heißen und zugleich ein Synonym ist für die Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht an der polnischen Zivilbevölkerung in den Jahren 1939-40.

Dr. habil Monika Tomkiewicz ist seit 2011 gemeinsam mit dem Staatsanwalt Maciej Schulz im Auftrag der Kommission für die Fahndung von Verbrechen gegen die polnische Nation in Danzig (Oddziałowa Komisja Ścigania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu w Gdańsku) für die Aufklärung der Piasnitzer Morde zuständig. Sie sichtet, vergleicht und wertet in den Archiven aufbewahrte Dokumente, Verhörprotokolle von Verdächtigen und Zeugen aus, teilweise aus früheren Strafprozessen. Sie nimmt auch an Maßnahmen zur Sicherung von Beweismaterial am Ort des Geschehens teil. Alle diese Aktivitäten ermöglichen es, die Informationslage zum Tatvorgang zu vervollständigen und können in einzelnen Fällen zur Identifizierung von noch unbekannten Opfernamen führen. Zu ihren Entdeckungen zählt beispielhaft ein Konvolut mit Fotografien der Exhumierung der Massengräber im Jahr 1946 (Warschauer Archiv des Instituts für Nationales Gedenken: AIPN).

Kurz vor der Kriegskapitulation Deutschlands wurde ein Versuch unternommen, die Massenmorde vor Ort zu vertuschen und die Beweise zu vernichten. Aber der Modus Operandi der Täter wies teilweise schon beim Tatvorgang Verschleierungstaktiken auf. Die Patienten und Patientinnen der Stralsunder Heilanstalt wurden in diesem Sinne in eine 500 km entfernte Region mit dem Vermerk einer „Verlegung in eine Westpreußische Anstalt“ gebracht. Zur Eröffnung der Sonderausstellung in Alt Rehse reiste die Historikerin Dr. Monika Tomkiewicz vom Institut für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej - IPN) diese Strecke zurück, an einen zentralen Ort der Vermittlung der NS-Ideologie. In der Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt Rehse wurde ab 1935 rund jeder sechste deutsche Arzt ideologisch geschult und indoktriniert. Ziel der Schulungen war es, Ärzte und Ärztinnen zu „Gesundheitsführern der Volksgemeinschaft“ auszubilden und Maßnahmen zur Rassenhygiene als Verpflichtung gegenüber dem „Volkskörper“ darzustellen. Die Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse klärt dazu auf und ist Gastgeber der Sonderausstellung zu den Piasnitzer Morden. Ein passender Ort, um über die Folgen der nationalsozialistischen Ideologie und sich daraus ergebende ethische Fragen nachzudenken.

Die Sonderausstellung „In Between? – image and memory“ zeigt fotografische Arbeiten eines internationalen Studierendenprojektes am Erinnerungsort Piasnitzer Wald (Piaśnica) und eröffnet Perspektiven für die Auseinandersetzung mit dem Verbrechen und seinen Hintergründen. Die Schau geht auf die Initiative des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität (ENRS) zurück. Diese durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien mitgeförderte Einrichtung begleitet Diskurse zur Erinnerungspolitik im europäischen Kontext, hat seinen Sitz in Warschau (Warszawa) und setzt zahlreiche Projektformate um. Dazu zählt die Workshopreihe „In Between“, die seit 2018 jährlich in wechselnden Grenzregionen Europas zur Geschichte des 20. Jahrhunderts durchgeführt wird. 2019 fand in dieser Reihe ein Fotografieworkshop zum 80. Jahrestag der Piasnitzer Morde statt. Die daraus resultierenden, vielfältigen Blicke öffnen neue Zugänge für alle Generationen und Rezipientengruppen auf die Verbrechen der Nationalsozialisten und ihre Opfer. Über die Kunst erfolgt die Annäherung an ein der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde das Kreisgebiet Putzig (Puck) mit Ort Groß Piasnitz (Wielka Piaśnica) aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrags Polen zugesprochen. Bis 1925 wanderten aus dem gesamten Abtretungsgebiet 80.000 Deutsche aus. Die Propaganda sprach von der „blutenden Grenze“ und machte die Gebietsverluste für viele wirtschaftliche Schwierigkeiten verantwortlich. Diese aggressive Propaganda stellte einen Nährboden für ideologische Radikalisierung und schürte Feindschaften unter den Nachbarn. Viele Angehörige der deutschen Minderheit ließen sich für den sogenannten „Selbstschutz“ anwerben und führten nach dem Überfall Deutschlands auf Polen zahlreiche Gewaltverbrechen an zivilen Bevölkerung durch.

Die Eröffnung der Ausstellung fand am Samstag, den 27. April um 15.00 Uhr statt. Den Einführungsvortrag zum Stand der Ermittlungen zu den Massakern von Piasnitz (Piaśnica) hielt Frau Dr. habil. Monika Tomkiewicz vom Institut für Nationales Gedenken Warschau (Instytut Pamięci Narodowej (IPN) Warszawa). Die Grußworte sprachen Dorota Makrutzki und Fabian Schwanzar. Im Publikum und für den Austausch mit der Referentin waren der langjährigen Leiter der Gedenkstätte Rainer Stommer und in die Aufarbeitung der Geschichte engagierter stralsunder Arzt Dr. Erwin Walraph anwesend.

Die Sonderausstellung kann bis zum 30. Juni 2024 in Alt Rehse besichtigt werden.
Öffnungszeiten: Freitag – Sonntag, 11.00 – 16.00 Uhr und nach telefonischer Anfrage, Tel.: 03962-221123.

Ort: Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse, Am Gutshof 34, 17217 Alt Rehse. Der Lern- und GeDenkOrt informiert mit einer Dauerausstellung und Führungen über die ab 1934 errichtete „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ und das NS-Musterdorf Alt Rehse.

Mehr zum Ausstellungsprojekt

Literatur zum Thema:

Tomasz Ceran, Izabela Mazanowska, Monika Tomkiewicz: Das Verbrechen von Pommern, Institut für Nationales Gedenken, Kommission für die Verfolgung von Verbrechen gegen die polnische Nation, Warszawa 2019

Jörg Osterloh, Jan Erik Schulte, Sybille Steinbacher (Hrsg.): "Euthanasie"-Verbrechen im besetzten Europa. Zur Dimension des nationalsozialistischen Massenmords, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2023

Rainer Stommer (Hg.): Medizin im Dienste der Rassenideologie. Die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft" in Alt Rehse, Berlin 2017

Jan Armbruster und Harald J. Freyberger (Hrsg.): Verwahrung, Vernichtung, Therapie. Zum 100-Jährigen Bestehen der stationären Psychiatrie auf dem Gelände des Krankenhauses West in Stralsund. Historisches und Erlebtes, Hamburg 2012

Erwin Walraph (Hg.): Dokumentation zur Ausstellung: erlebt - verdrängt - erinnert. Mißbrauchte Medizin in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland insb. in Pommern und Mecklenburg.

 

Referentin mit Publikum beim Eröffnungsvortrag.
Vortrag zur Eröffnung am 27. April 2024. Foto: Dorota Makrutzki
Blick in den Ausstellungsraum in Alt Rehse.
Blick in den Ausstellungsraum in Alt Rehse. Foto: Fabian Schwanzar
Gastgeber mit Referentin im Ausstellungsraum.
Dorota Makrutzki und Fabian Schwanzar waren Gastgeber der Veranstaltung.
Teilehmende des Workshops am Gedenkort Piasnitzer Wald (Piaśnica).
Teilehmende des Workshops am Gedenkort Piasnitzer Wald (Piaśnica).