Bildgeschichte
Der Wolf und die Nachtigall
Der Wolf und die Nachtigall
Eine Erzählung nach Ernst Moritz Arndt
Vor langer, langer Zeit lebte ein König auf der Insel Rügen. Über das Pommernland und dessen Grenzen hinaus war seine Frau, die Königin, für ihre Schönheit und Anmut bekannt. Das Volk verehrte sie für ihr liebliches Aussehen und ihr gütiges und warmherziges Wesen.
Dieses Königspaar hatte zwei Kinder - einen Sohn und eine Tochter. Und beide Kinder waren ihrer Mutter in Schönheit und gutmütigem Charakter gleich.
Leider starb die Königin bereits früh. Der König war über den Verlust seiner geliebten Frau so sehr erschüttert, dass er sich lange Zeit weigerte wieder zu heiraten. In dieser Zeit der Trauer wuchsen die Königskinder heran und nahten sich schon bald dem Erwachsenenalter.
Nach einiger Zeit fand der König jedoch eine neue Frau, welche er alsbald heiratete. Die neue Königin war scheinbar ihrem Mann, seinen Kindern, und all den Dienern und Bürgern gegenüber freundlich gesinnt. Doch in Wahrheit konnte sie ihre Stiefkinder nicht leiden. Hinter ihrer freundlichen Art versteckten sich Hass, denn sie war furchtbar neidisch auf das Glück, die Schönheit und die Beliebtheit der Kinder. Sie standen stets im Mittelpunkt, während ihr niemand Beachtung schenkte. Es verdross sie so sehr, dass sie plante, die Kinder mit List und Tücke vom Königshof zu verjagen. Dabei musste sie vorsichtig vorgehen, um dabei unbemerkt zu bleiben.
Da die Königskinder nun fast erwachsen waren, kamen viele Prinzen aus aller Welt, um die Prinzessin zu freien und sich mit ihr zu verheiraten. Die Prinzessin jedoch wollte lieber frei sein und sich nicht in einer Ehe binden. So schickte sie jeden Mann wieder nach Hause, egal von woher er angereist war. Der König war darüber sehr betrübt und wünschte sich, dass seine Tochter mit einem Ehemann glücklich werden würde.
Daher kam sie doch dem Wunsch ihres Vaters nach, und wählte unter den Bewerbern den Prinzen aus dem Ostland aus. Er war ein schöner, freundlicher und verständnisvoller Mann.
Die Verlobung erfreute den König sehr und er nahm seinen künftigen Schwiegersohn mit offenen Armen auf. Die Königin hingegen war erzürnt darüber, und wollte die bevorstehende Vermählung um alles in der Welt verhindern. Sie überlegte sich verschiedene Listen, doch keine gelang ihr, da die Prinzessin von der Dienerschaft sehr verehrt und stets behütet wurde.
Währenddessen kam die Hochzeit immer näher und der Königin wurde bange. Sie wollte die Vermählung um jeden Preis verhindern. Am Hochzeitstag erkannte sie endlich ihre Chance.
Vor der Trauung bat sie die beiden Königskinder, Bruder und Schwester, in den Schlossgarten. Sie sagte, sie hätte eine ganz wundersame Blume gefunden, die sie ihnen gerne zeigen würde. Die Kinder ahnten nichts Böses. Während sie die Blume betrachteten, konnte die Königin, fern von den Augen der Anderen, ihren Zauber verrichten. Sie stellte sich hinter die Königskinder, strich mit einem Zweig über ihren Rücken und sprach leise ihren Zauber aus.
Als dieser vollendet war, verwandelten sich die Königskinder in Tiere. Der Prinz wurde zu einem großen, wilden Wolf. Er sprang mit einem großen Satz über die Mauer und lief über die Felder fort in den Wald. Die Prinzessin hingegen wurde zu einer Nachtigall. Sie trällerte ein trauriges Lied und flog davon. Die böse Königin war erfreut über ihre geglückte Tat. Sie zerriss ihre Kleider, beschmutzte sich von oben bis unten mit Dreck und verletzte sich selbst.
Wie wahnsinnig lief sie in das Schloss zurück, wo bereits alle Gäste versammelt waren. Wie von Sinnen rief die Königin, Räuber hätten sie im Garten überfallen und ihr die Königskinder entrissen und entführt.
Der König und der Bräutigam waren außer sich vor Sorge. Sie ließen Wachen rufen und nach ihnen suchen. Viele Wochen wurden alle Wälder, Täler und Felder durchkämmt und Boten in ferne Städte und Ländereien gesandt, jedoch ohne Erfolg. Von den Kindern fehlte jede Spur. Sie waren wie verschollen.
Die Trauer über den Verlust seiner Kinder raubte dem König seine Lebenskraft, woraufhin er bald verstarb. Da seine Kinder verschollen waren, erbte die böse Königin das Königreich und die Macht. Alle Untertanen und Diener mussten ihr die Treue schwören und ihre Befehle befolgen. Die meisten gehorchten ihr jedoch nur aus Liebe und Loyalität gegenüber dem verstorbenen König.
Es vergingen mehrere Jahre und die Königin herrschte mit viel Gewalt über die Ländereien. Sie holte sich Soldaten aus fremden Ländern, die sie schützten. Denn sie musste mit Furcht herrschen, da sie die Liebe der Bevölkerung und der Diener nicht erringen konnte.
Das Gerede der Leute blieb nicht fern. Sie redeten hinter dem Rücken der Königin, und flüsterten böse Sachen über sie. Sie scherte sich darüber recht wenig, weil sie die Macht hatte. Ebenso war sie sich sicher, dass die Tiere sich nicht zurückverwandeln würden.
Die Lage der beiden Kinder war jedoch hoffnungslos. Sie erinnerten sich nicht an ihr menschliches Leben und an den schrecklichen Fluch. Seit dem schicksalhaften Tag lebten sie im Wald in der Nähe des Schlosses und fristeten dort ihr Dasein.
Im Gewand der Nachtigall saß die verwandelte Prinzessin oft auf einem Baum inmitten einer Lichtung. Den Platz liebte die Prinzessin schon seit ihrer Kindheit. Von dort aus ließ die Nachtigall ihre Lieder erklingen. Der wundersame Ton lockte so manche Jäger und Tiere auf die Lichtung, welche dort rasteten und den schönen Klängen lauschten. Auch ihren Bruder, im Gewand des Wolfes, zog es dorthin.
Ein unbestimmtes Gefühl verleitete den Wolf manchmal, sich in die Nähe des Schlosses zu begeben. Doch seine Streifzüge reichten nur bis zum Waldrand. Er konnte sich dem Anwesen nicht nähern, da die Königin einen Bann um das Schloss gelegt hatte.
Die Königin fürchtete so sehr die Rückkehr, dass sie bald wöchentlich zur Wolfsjagd aufrief. Auch die Vögel sollten nicht verschont werden, da ihr der Gesang auf die Nerven ging. Die Diener hatten keine Wahl und mussten der bösen Königin gehorchen. So wurden die verwandelten Kinder wieder und wieder durch den Wald getrieben. Ruhe und Entspannung fanden sie nur auf ihrer Lichtung.
Auch am Hofe herrschte die Königin mit Schrecken. Auch der Bräutigam der Prinzessin war spürte den Hass der Königin und ahnte, dass sie nach seinem Leben trachtete. Deshalb ritt er eines Nachts davon. Die Königin stellte ihn als Verräter dar, und wollte, dass er gefunden und getötet wird.
Der Prinz aus dem Ostland floh von einem Ort zum nächsten. Seine lange Reise endete erst in seinem Heimatland. Dort fand er Schutz bei seinem Vater. Dieser bat ihn jedoch, nach den verschollenen Königskindern zu suchen. So reiste er trotz der Gefahren wieder in das Land der bösen Königin.
Am Königshof wurde bald ein großes Fest vorbereitet. Es waren viele verschiedene Fürsten und Grafen ins Schloss der Königin geladen. Als Höhepunkt der Feierlichkeiten war eine große Jagd geplant. Diese war der Königin ein Dorn im Auge, da sie seit dem Verschwinden der Kinder nicht mehr im Wald war. Sie fürchtete den Königssohn im Wolfsmantel zu begegnen und versuchte einen Grund zu finden, bei der Jagd nicht anwesend sein zu müssen. Doch sie konnte sich den Bitten und Aufforderungen ihrer Gäste nicht entziehen.
Am Tag des Jagdfestes forderte sie die größte Kutsche und die stärksten Soldaten, welche sie beschützen sollten, an. Unterdessen liefen die Jäger mit ihren Hunden durch den Wald, scheuchten die Tiere auf und hetzten sie. Dabei wurde laut Musik gespielt und die Jagdgesellschaft war in guter Stimmung. Die Königin fühlte sich in ihrer Kutsche gut beschützt von den Soldaten. Jedes Tier, welches ihnen entgegenkam, wurde sofort erlegt.
Doch plötzlich raste ein riesiger, grausamer Wolf durch die Menge. Er heulte ein grausames Lied, dass jedem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Panik brach aus. Die Böse Königin krallte sich fest und erstarrte vor Angst. Die Wachen konnten das ungebändigte Tier nicht aufhalten. Stattdessen ergriffen sie die Flucht und rannten um ihr Leben.
Der Wolf sprang auf die böse Königin zu und warf sie von ihrem hohen Thron hinab auf den Boden. Sie schrie laut auf, und wurde von dem wütenden Tier getötet.
Die Soldaten versuchten, den Wolf zu fangen, fanden aber anstatt des Wolfes neben der getöteten Königin einen schönen Jüngling vor.
Sein Gesicht war blutverschmiert und in seinen Augen glänzte noch die Wut des Wolfes. Einige Soldaten hielten ihn für einen Verbrecher, doch die langjährigen Diener des Schlosses erkannten den verschwundenen Königssohn und beschützten ihn.
Der Prinz wurde umsorgt und in eine Decke gehüllt. Er beendete die Jagd und kehrte mit seiner Gefolgschaft und den anwesenden Gästen in das Schloss zurück.
Als er den Schlosshof wieder betrat, wurde ihm jedoch ganz schwer ums Herz. Er musste an seine geliebte Schwester denken, die noch vermisst wurde. Aber er fühlte, dass sie noch am Leben war.
Währenddessen geschah etwas ganz anderes im Wald. Der Prinz aus dem Ostland war gerade in die Nähe des Schlosses gelangt. Während er durch den Wald strich, gelangte er auf die Lichtung, auf welcher die Prinzessin als Nachtigall ihre Lieder erklingen ließ.
Dort fand er ein schlummerndes Mädchen unter einem großen Baum vor. Näher kommend erkannte er die verschwundene Prinzessin. Durch den Tod der Königin war der böse Zauber gelöst worden und sie hatte sich zurückverwandelt.
Des Prinzen Freude war riesig. Er bedeckte die Prinzessin mit seinem Umhang und wartete auf ihr Erwachen.
Nach einiger Zeit öffnete sie die Augen und fuhr erschrocken hoch. Sie war erstaunt über ihre menschliche Gestalt, und die Anwesenheit des Prinzen. Er berichtete vom Tod des Vaters und der grausamen Herrschaft der Königin. Sie kehrten ins Schloss zurück, um deren Herrschaft zu beenden. Sie wussten ja noch nichts von ihrem Tod.
Als der Prinz ihre Hand nahm, hielt die Prinzessin jedoch inne, denn sie wollte frei bleiben und selbstbestimmt leben. Die letzten Jahre hatte sie als Vogel, dem freiesten Geschöpf der Welt, gelebt. Sie wollte diese Unabhängigkeit nicht aufgeben, sie liebte ihre Freiheit, und wollte sich daher nicht an jemanden binden.
Der Prinz war darüber sehr traurig, aber auch froh, die Prinzessin wohlauf gefunden zu haben. Ihrem Glück und ihren Wünschen wollte er nicht im Wege stehen. So lösten sie ihre Verlobung und kehrten zum Schloss zurück.
Der Königssohn war überglücklich über die Rückkehr seiner geliebten Schwester und dankte dem Prinzen.
Alsbald wurde ein großes Fest gefeiert, und der Königssohn wurde zum neuen Herrscher gekrönt. Der Prinz aus dem Ostland blieb ein enger Freund der Königsfamilie. Die Prinzessin fand ihr Glück in ihrer ersehnten Unabhängigkeit.
Nachwort Dieses Leseheft entstand als ein Teil der Abschlussarbeit von Johanna Gaede für die Ausbildung Grafik Design an der Wirtschaftsakademie Nord.  In Zusammenarbeit mit dem Pommerschen Landesmuseum Greifswald ist dieses Projekt für eine Veranstaltung zum 250-jährigen Jubiläum von Ernst Moritz Arndt zustande gekommen. Die Illustrationen sind Bestandteil der Aufführung für ein japanisches Erzähltheater.
Impressum
Original von Ernst Moritz Arndt
Nacherzählung und Illustrationen von Johanna Gaede
Gesetzt in der Optima
Im Auftrag des Pommerschen Landesmuseums
Copyright 2019