Ein transatlantischer Austausch rund um Musik. Zwischen Schlager und Folk.
Text von Ralf Gehler (Schwerin)
Gedanken zum Treffen online am „Runden Tisch“ des Kulturreferats für Pommern und Ostbrandenburg am Pommerschen Landesmuseum und der Landesarbeitsgemeinschaft TANZ MV zum Thema „Musik und Migration – Pommersche Musiktraditionen in Brasilien“ am 29. September 2022.
„Jetzt ist die Zeit und Stunde da, wir fahren nach Amerika“, heißt es im Volkslied aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie viele andere Europäer suchten auch Menschen aus Pommern seit dieser Zeit ihr Glück in der „neuen Welt“. Ein wichtiges Ziel war Brasilien. In den Kanon der pommerschen Alltagskultur, die die Auswandererfamilien mit über den Atlantik nahmen, gehörte auch die Musik. Sie erklang auf den pommerschen Festen, in den Tanzsälen oder in den Stuben der ländlichen Bevölkerung und, wie überall in der Welt, erfüllte sie eine bedeutende Rolle im Gemeinschaftsleben. Man tanzte regionale Tänze, sang Lieder in der plattdeutschen Sprache und spielte typische Musikinstrumente. All das kam mit nach Übersee.
Bis heute ist das Bewusstsein für die deutsche und pommersche Herkunft der Nachkommen der Auswandererfamilien nicht ausgestorben. Im Gegenteil. Weitab vom Herkunftsland bewahrte und entwickelte sich in Brasilien deutsche Musik – meist als Gebrauchsmusik auf Festen und in Tanzsälen. Ein wichtiges Element pommerschen Erbes im Itajaí-Tal (Bundesstaat Santa Catarina) ist die Chemnitzer Konzertina und ihr Verwandter, das Bandoneon. Von den traditionellen Melodien zur Zeit der Auswanderung bis zu modernen Tanzmusikkompositionen wird Musik zum Tanz noch heute darauf gespielt.
„Das ist interessant!“, sagten sich die Initiatorinnen des Treffens Yvonne Middelborg und Dorota Makrutzki. Ein Themenwochenende (Tanzworkshop und Konzert) zur traditionellen Musik wurde in Greifswald organisiert und ein „Runder Tisch“ zum Thema „Musik und Migration – Pommersche Musiktraditionen in Brasilien“ fand an den Computerbildschirmen der angemeldeten Teilnehmenden statt. Tausende Kilometer und ein Ozean lagen zwischen den Beteiligten. Praktiker und Praktikerinnen sowie Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Brasilien, Polen und Deutschland diskutierten erstmals miteinander. Die Moderation übernahm Yvonne Middelborg und für den reibungslosen technischen Ablauf sorgte Franziska Goschke.
Die Folkszene war im Gespräch stark vertreten. In Deutschland beschäftigen sich ihre Vertreter und Vertreterinnen mehr und mehr mit Tanzmusik und Tänzen selbst – ohne die Idee einer Vorführung, sondern mit der Idee des gemeinsamen Tuns. Folktanzmusizierende und Tanzforschende in Deutschland und in Polen suchten nach ursprünglichen Wurzeln der Kultur ihrer Regionen in der Musizier- und Tanzpraxis der Nachfahren der pommerschen Auswandererfamilien in Brasilien. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in der Runde verfolgten dagegen einen analytischen Ansatz. Sie fragten die brasilianischen Teilnehmenden nach Musiziergemeinschaften, Identitäten und Politik. Die Teilnehmenden in Brasilien waren aufgewachsen in ihrer Tradition, sprachen Pomerano und spielten selbst Musik. Sie suchten, wie mir schien, nach verbliebenen Gemeinsamkeiten über den Atlantik hinweg und den Wurzeln ihrer Kultur. Schnell wurde klar – jede beteiligte Person hat eben ein eigenes Bild von der Sache. Die Erwartungen konnten wohl unterschiedlicher nicht sein, aber möglich war eine Annäherung.
Der Schreiber dieser Zeilen glaubte, mit seiner musikhistorischen Einführung in den Abend eine gemeinsame Basis der Interessen zu berühren. Ob das gelang? „Traditionelle Musik“ der Folkszene, „Volksmusik“ der Heimatpflegenden und „Deutsche Musik“ der Pomaranas und Pomeranos sprechen unterschiedliche Sprachen. Hier trafen sie aufeinander.
Doch machen nicht genau diese Widersprüche die Sache interessant? Ein Beispiel: Die Musizierenden der Folkszene lehnen die Musik ihrer Eltern- und Großelterntradition im Allgemeinen ab. Sie wenden sich mehr den älteren Schichten des 18. und 19. Jahrhunderts zu. Basis ihres Musizierens bilden Tanzmusikhandschriften aus Archiven und Bibliotheken. Tanzmusikstücke des späten 19. und des 20. Jahrhunderts fanden bislang kaum Zugang. Genau hierauf basiert aber ein Großteil der unter den Deutschen in Brasilien praktizierten Tanzmusik, wie es aus dem Impulsvortrag und Gespräch mit den beiden eingeladenen Referenten Claudio Werling und Roberto Maske zu entnehmen war. Nachdem Roberto Maske auf dem Bandoneon in tanzmusikalischer Perfektion die bekannte Polka „Rosamunde“ gespielt hatte, machte eine Teilnehmerin die Bemerkung: „Es hört sich auf jeden Fall auf dem Bandoneon schöner an als aus dem Lautsprecher. Zu meinem persönlichen Standpunkt sag ich sonst nichts weiter.“ Könnte nicht ein Aufgreifen und Bearbeiten genau solcher Stücke für uns in Deutschland wieder interessant sein? Oder ist die Abneigung der Musik unserer belasteten Eltern- und Großelterngeneration doch zu stark? Ist diese Musik für uns heute zu „unsexy“? Der Begriff „Volksmusik“ wurde im Gespräch von den Brasilianern nie gebraucht. Die Herkunft der Musik – Deutschland oder Pommern – ist der Kern ihres Musizierens.
Eines wurde nach diesem Treffen klar: Die deutsche Musik in Brasilien ist keine Zeitkapsel, die uns direkt ins 19. Jahrhundert führt. Sie ist Ausdruck einer gelebten Festkultur, die sich immer wieder Material aus Deutschland holte, bis hin zum Schlager heutiger Tage. Es finden sich hier jedoch auch Musikstücke, die in die Zeit der Auswanderung zurückreichen, wie „Herr Schmidt“ zum Beispiel. Folkmusiker- und Musikerinnen sowie Trachtentänzer- und Tänzerinnen hierzulande kennen dieses traditionelle Tanzlied genau wie die Praktizierenden in Brasilien.
Einer der interessantesten Momente des Treffens war jener, als Claudio Werling über den Tourismus sprach und die Vermarktung der deutschen Kultur in Brasilien: 72.000 Gäste beim Oktoberfest in Blumenau, Trachtennähen von „Dirndln“ als Geschäftszweig. Man spürte die Abneigung jener sensiblen brasilianischen Musikanten in der Runde, die den Charakter ihrer Musik durch diese flache Popularisierung bedroht sehen.
Am Ende der Runde stand das große Bedürfnis, doch nun endlich mal Musik zu machen. Und so schloss besagte Polka „Rosamunde“ auf dem Bandoneon den Abend. Mehr davon wäre beim nächsten Treffen wichtig. Das Entdecken von Gemeinsamkeiten und der Austausch erscheint mir für die Zukunft produktiv. Vielleicht sollten wir das nächste Treffen mit „Herrn Schmidt“ beginnen. Nach diesem Kennenlernen können wir dann entspannt auch nach Politik, Identität und Historie fragen.
Zum Autor: 1963 in Schwerin in Mecklenburg geboren. Von 1990 bis 1996 studierte er an der Humboldt-Universität Berlin Europäische Ethnologie sowie Neuere und Neueste Geschichte. Arbeit als freiberuflicher Volksmusikant, Historiker und Lehrer für traditionelle Musik. Zweimaliger Preisträger des Deutschen Weltmusikpreises. Von 2009 bis 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Museums für Alltagskultur der Griesen Gegend in Hagenow. Publikationen zur Musikgeschichte und Musikarchäologie, Promotion an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Jahre 2012 zur mecklenburgischen Volksmusikgeschichte. Kurator verschiedener kulturhistorischer Ausstellungen, u.a. für die Schweriner Schleifmühle, das Kloster Rehna und das Wossidlomuseum Walkendorf. Musikalische Projekte waren und sind u.a.: „Ostkreuz Combo“, „Kwart“ und „Malbrook“.