Musikwissenschaftliches Seminar zur Volksmusik

Pommersches Volksliedarchiv
Pommersches Volksliedarchiv

Ein Kooperationsprojekt mit der Universität Greifswald

Text von Dr. Martin Loeser (Greifswald)

Unter dem Titel „Von der Karteikarte aufs Festival. Das Pommersche Volksliedarchiv und seine Rezeption im Wandel der Geschichte fand im Sommersemester 2023 am Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft der Universität Greifswald ein musikwissenschaftliches Seminar in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat für Pommern und Ostbrandenburg am Pommerschen Landesmuseum statt. Unter der Leitung von Dr. Martin Loeser und Dorota Makrutzki erkundeten Studierende den historischen Entstehungskontext des Pommerschen Volksliedarchives und dessen derzeitige KI-gestützte Erschließung sowie digitale Edition – eine Kooperation von Universitätsarchiv und Universitätsbibliothek Greifswald, Pommerschem Landesmuseum und Greifswalder Musikwissenschaft. Hieraus gingen potenzielle Impulse für weitere Forschungen und für die Musikkultur der Gegenwart hervor.

Gerade die aktuelle Musikszene erwies sich für die eigenständige Arbeit der Studierenden als besonders ergiebig, stehen doch Volkslied und Volkstanz einerseits in einem Spannungsfeld zwischen traditioneller Brauchtumspflege (verbunden mit nicht selten politisierter Erinnerungsarbeit der Heimat- und Vertriebenenverbände) und gegenwärtigen Arrangements mit einer breiten Palette an Ideen und Klangeffekten. Namentlich im Rahmen heutiger Festivals kommt es zu häufig innovativen Adaptionen von Volksliedern und Tänzen. Einblicke in Programme und Rahmenbedingungen traditioneller Musik, aktuelle Konzert- und Festivalstrukturen gewährten ein Tanzabend der Gruppe „Malbrook im Kulturzentrum St. Spiritus, zudem persönliche Gespräche mit deutschen und polnischen Musikern und Musikerinnen. Hier durften die Seminarteilnehmenden von deren langjährigen internationalen und interkulturellen Erfahrungen profitieren: Dr. Ralf Gehler, u.a. Mitgründer des Zentrums für Traditionelle Musik, Mitinitiator des WINDROS-Festivals und Mitglied der Gruppe „Malbrook, gab nicht nur profunde Einblicke in unterschiedliche Musizierhaltungen und Musikpraxen, sondern auch in die internationale Entwicklung des Liedersingens und Verbindungen zur anglo-amerikanischen Folk-Szene. Die Schwestern Katarzyna Janiszewska und Małgorzata Müller von der „Kapela Janiszewskich ermöglichten wiederum den Blick auf unterschiedliche Erwartungshaltungen bei Publikum und akademischen Experten und Expertinnen in Deutschland und Polen.

Weitere Aspekte des Seminars bildeten die Etablierung des Begriffs „Volkslied“ bei Johann Gottfried Herder in den 1770er Jahren, die hiervon ausgehende Sammeltätigkeit und Romantisierung sowie Spuren pommerscher Musik in Brasilien. Namentlich im Zusammenhang völkisch-nationaler Politik im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigte sich, wie das Lied regelrecht zu einem Kernstück deutscher Kultur avancierte, der aggressiven Abgrenzung und Selbstvergewisserung diente. Dieser vielfältige ideologische Missbrauch des Volksliedes – nicht zuletzt auf Seite der Nationalsozialisten – strahlte nicht nur auf die Musikkultur in beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg aus, sondern bis heute. Welcher Sensibilisierung gegenüber einer rechtsextremen politischen Vereinnahmung es bedarf und wie vor einem solchen Hintergrund die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes Volkslied und Volkstanz gelingen kann, dies wurde diskutiert und verlangt auch in Zukunft lebhafte Diskussionen.